Hugo

Am 27.12.2018 erschien abends gegen 21:00 Uhr in der Wildtierhilfe-Notfallgruppe ein Notruf aus Baesweiler bei Aachen. Ein aufgefundener Igel, Finderin nicht mobil und muss um 4:00 Uhr früh zur Arbeit. Wegen Katzen in der Wohnung konnte der Igel zudem nicht ins Warme geholt werden.

Den Aachener Raum deckt normalerweise Ulla ab, die eine ganz wundervolle Igelpäpplerin ist. Aber an diesem Abend war Ulla nicht online. Zudem wusste ich, dass sie trotz der Winterzeit noch immer recht viele Päppeligel betreute, während ich nur noch meine beiden Jungspunde Luna und Laurenz im Büro sitzen hatte — beide fertig zum Winterschlaf und daher bereits mit bevorstehender Abholung durch die Finder.

Aus einem Impuls heraus beschloss ich, den Igel zu holen. Ich hole nur sehr, sehr selten die Igel selbst ab, sondern lasse sie i.d.R. bringen — so wie fast alle Päppler dies tun. Denn den Aufwand, durch die Gegend zu fahren und Igel abzuholen, kann i.d.R. kein Igelpäppler noch zusätzlich übernehmen. Aber hier klang die Finderin verzweifelt, das Tier war in der Kälte und die Zeit drängte. Also fuhr ich sofort los.

Vor Ort habe ich mir den Igel auch nur geschnappt — er hatte sich extrem eng und bombenfest eingekugelt, ihn zu öffnen, wäre im kalten Treppenhaus ein Stress für uns beide geworden. Ich packte ihn daher nur schnell in einem Handtuch in die Transportbox und fuhr direkt wieder los. In welch katastrophalen Zustand dieser arme Igel war, sah ich daher erst zu Hause:

  • Das Tier war stark untergewichtig – nur 547 g, wo über 1.000 g sein sollten!
  • Seine Haut hatte an vielen Stellen einen grauen Belag aus Milben
  • Er hustete heftig und anhaltend
  • Auf seiner Stirn hatte er eine große, dick schwarz verkrustete Wunde. Unter der Wunde suppte Eiter heraus.
  • Beide Hinterbeine waren komplett gelähmt. Er zog sie flach hinter sich her. Dadurch waren beide Fußrücken komplett aufgeschabt. Die wunden waren sehr fies und völlig vereitert.
  • Am rechten Hinterbein befand sich zudem eine „Tasche“, wo sich die Haut des Beines vom Fleisch abgelöst hatte. Diese Tasche war ebenfalls voller Eiter.
  • Die erste Kotprobe ergab: Capillaria (Haarwurm) und Crenosoma (Lungenwurm), beides mäßig. Die zweite Kotprobe in der Nacht zum 30.12. zeigte den Befall dann allerdings bereits massiv, inklusiver adultem Haarwurm im Kot (normalerweise findet man im Kot die Eier, dass die Adulti ausgeschieden werden, ist selten und weist auf einen massiven Befall hin).

Natürlich gab es für den armen Kerl direkt erst einmal Schmerzmittel, zudem ein Mittel, das die Milben abtötet sowie praktischerweise gleichzeitig auch gegen Lungenwürmer wirkt.

Zudem spritzte ich ein Antibiotikum, das man standardmäßig bei infizierten Wunden gibt und gab eine Infusion mit Vitamin B. Der arme Kerl musste direkt so viel auf einmal verkraften, aber daran ging nun mal kein Weg vorbei. So heftig das ist. Dieses Tier hatte nichts mehr zu verlieren und in seinem Zustand konnte man auch die Behandlung nicht aufschieben.

Es traf sich sehr glücklich, dass ich das benötigte Antibiotikum vorrätig hatte. Es war nämlich kurz vorher ein Rest übriggeblieben, weil ich es bei Luna deutlich schneller absetzen hatte können. Bei dermaßen vereiterten Wunden gibt man bei Igeln allerdings zusätzlich noch ein zweites Antibiotikum, um einer Sepsis vorzubeugen, doch davon hatte ich keine Reste und mein Tierarzt bis zum 02.01.2019 geschlossen!

Und noch etwas fehlte mir: Vitamin B. Hiervon war mit der ersten Infusion mein Restvorrat aufgebraucht worden. Doch Vitamin B war hier extrem wichtig. Denn die komplett gelähmten Beine waren nicht das Resultat einer Querschnittslähmung. Dies zeigte sich darin, dass Urin- und Kotabsatz ja funktionierten – zumindest prinzipiell, weil Hugo seinen Po nicht anheben konnte, verklebte alles im Fell und in den Stacheln am Hintern und sein Bauch war auch ständig feucht von Urin. Und noch ein weiteres Problem brachten die „hängenden“ Beine mit sich: Beim Einrollen stachen sich die Stirnstacheln immer wieder tief in die Fußrücken und verschlimmerten die eh schon üblen Wunden. Eine der ersten Maßnahmen war daher, Hugo eine wenig modische, aber hilfreiche Vokuhila-Frisur zu verpassen:

Nein, diese Lähmung war wohl eher die Folge eines katastrophalen Vitamin B-Mangels, wie es bei Igeln seltsamerweise gar nicht so selten auftritt. Teilweise gelähmte Beine kannte ich auch schon, beispielsweise von Stach-Lee. In einem solchen Ausmaß aber hatte ich es noch nicht erlebt und mir war völlig unklar, ob das „wieder werden“ würde.

Ganz klar war aber: Weder das zweite AB, noch Vit. B-Infusionen konnten bis zum 2. Januar warten. Glücklicherweise ist es so, dass wir Päppler uns ja gegenseitig unterstützen und so ich durfte mir gleich am nächsten Mittag von einer befreundeten Päppelstelle sowohl das zweite AB, als auch Vit. B abholen. Somit sah die Therapie ab Tag 1 nach dem Fund so aus:

  • Direkt am Fundabend
    • Mittel gegen Milben und Lungenwurm, Flohmittel, erstes Antibiotikum, Infusion aus Ringer-Lactat mit Vitamin B
  • Fortgesetzt:
    • Schmerzmittel
    • Zwei abgestimmte Antibiotika
    • Hochdosiertes Vitamin B via Infusion
    • Wundbad der Beine
    • tägliche Wundreinigung und Versorgung mit Wunddesinfektion, Panthenollösung/creme und Wundgel (Füße)
    • 2-3 mal Hautpflege mittels Öl
  • Über die Nahrung:
    • Einige Tage lang Schleimlöser zum verbesserten Abhusten der Lungenwürmer
    • Biotin und essentielle Fettsäuren für Stacheln, Fell und Haut sowie Probiotik zum Schutz des Darmes während der Antibiose und Wurmkuren
  • Zwischendrin je einmal:
    • Wiederholung des Milbenmittels
    • Wurmkur gegen Darmsaugwurm
    • nach Stabilisierung Wurmkur gegen Haarwürmer

Diese Liste liest sich zunächst einmal erschreckend. Aber zum einen sind Wildtiere ganz anders in der Behandlung als Haustiere: Sie sind unglaublich „hart im Nehmen“ — wenn sie etwas haben, dann sind es heftige Dinge, die deutlich schärfer beschossen werden müssen. Gleichzeitig sind sie wirklich wahnsinnig regenerationsfähig. Und Hugo ist das beste Beispiel dafür! Zudem verlief die Therapie über einen längeren Zeitraum und natürlich bekam Hugo nicht „alles auf einmal“, sondern so gut „ineinander gepuzzelt“ und abgestimmt, wie es nur möglich war.

Rasche Stabilisierung

Zunächst stabilisierte sich Hugo sehr schnell, binnen fünf Tagen hatte er bereits 750 g, zudem verschwand der Eiterherd an der Stirn binnen zwei Tagen (!) und am linken Fuß binnen ca. einer Woche. Direkt am 2.1. ging es zu meinem Igel-Tierarzt. Die begonnene Therapie wurde für gut befunden und ich bekam beide benötigte Antibiotika sowie Vitamin B-Komplex zur Fortführung mit. Nachdem Hugo zunächst recht schnell anfing, beim Einrollen die Beine enger an den Bauch zu ziehen (was das Wunden versorgen nicht gerade erleichterte, aber dafür die Verletzungen durch Stacheln reduzierte) sah ich ihn am 6.1. erstmals zumindest das rechte Hinterbei aktiv setzen! Gleichzeitig war auch der letzte Eiterherd am rechten Fuß einer sauberen und trockenen Wunde gewichen, so dass ich am 8.1. das zweite Antibiotikum absetzen konnte.

Der Einbruch

Leider ging es Hugo aber dann aber zunehmen schlechter, und der Grund hierfür lag einfach darin, dass er als Wildtier die vielen Kontakte und Behandlungen nicht mehr wegstecken konnte, je mehr er wieder „zu sich kam“. Erst fing er an unter dem Spritzen zu schreien — und Igelschreie sind markerschütternd, es war schrecklich!

Dann begann er immer mehr zu toben, fauchen, beißen (was ja ein normales Abwehrverhalten ist) und schließlich fraß er nicht mehr vernünftig und brach entsprechend von jetzt auf nun massiv im Gewicht ein (826 g => 768 g binnen einer Nacht).

Bei einem plötzlichen massiven Gewichtsverlust muss man beim Igel immer an den Darmsaugwurm denken, reagierte ich mit zwei Maßnahmen:

  1. In der folgenden Nacht gab es eine Tablette gegen Darmsaugwurm
  2. Ich stellte alle Behandlungen ein bis auf die notwendige Injektion des Antibiotikums jeden zweiten Tag.

Das ebenso notwendige Vitamin B gibt es nun nur noch oral. Das ist riskant, denn mit oraler Vitamin B-Gabe kommt es mitunter zu einer Massenentwicklung von Kokzidien, so dass man dann notgedrungen die Kokzidose behandeln muss. Zudem ist Kokzidose eine Zoonose, also auch für Menschen ansteckend, und sie erfordert wegen der Sporulationsfähigkeit der Erreger sehr starke Hygienemaßnahmen. Kurzum: Das will sich niemand ins Haus holen! In diesem Fall aber ging ich das Risiko ein, denn ein Tier, das sich aufgibt, war nun ja auch keine Alternative.

Der Erfolg kam sofort: Hugo begann wieder gut zu fressen und legte wieder ordentlich zu. Mit zeitlichem Abstand zur Wurmkur gegen den Darmsaugwurm konnte ich somit auch die Bekämpfung der mittlerweile massiv vorhandenen Haarwürmer beginnen (das Mittel wird oral gegeben, also auch für Hugo problemlos) und abschließen.

Wo stehen wir heute?

Nach nur drei Wochen nähert sich Hugo mittlerweile einem Gewicht von 1.000 g. Er frisst gut, die letzte Kotprobe wies keine Haarwurmeier, keine Lungenwurmlarven und auch keine Saugwurm-Hinweise mehr auf. Und: Es sind glücklicherweise bisher keine Kokzidien hochgekommen!

Die Wunden sind abgetrocknet und heilen. Heute ist die letzte „Borke“ von der Stirnwunde gefallen und die Haut darunter ist geschlossen — noch hell, dünn und komplett kahl, aber geschlossen. Am wichtigsten aber:

Hugo läuft!

Hugo benutzt beide Hinterbeine und macht „normale“ Schritte mit ihnen. Noch sind diese Schritte langsam und sehr trippelig. Der Po hängt noch ziemlich tief über dem Untergrund, aber den Kot setzt er in vernünftigen Würsten/Haufen ab, d.h. er hebt den Hintern zumindest dabei hoch.

Bis Hugo richtig laufen kann — auch im hochbeinigen Igel-Renntrab — wird es sicherlich noch eine ganze Weile dauern. Wenn aber die Wunden weiterhin gut abheilen, kann auch das letzte Antibiotikum in absehbarer Zeit abgesetzt werden.

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Winterschlaf?

Sollten auch die Parasiten weiterhin unten bleiben — bei Lungenwurm und Kokzidien bin ich noch nicht ganz sicher, dass beides ganz weg ist bzw. weg bleibt — könnte Hugo eventuell noch einen ganz kurzen Winterschlaf hinbekommen. Das wäre für ihn sehr wichtig, doch vorher muss alle Medizin nicht nur abgesetzt, sondern auch verstoffwechselt sein!

Wir werden jedenfalls beide daran arbeiten, dieses Ziel noch rechtzeitig zu erreichen!