Rosi

Zurück aus dem Urlaub wollte ich zunächst erst mal keine Igel annehmen. Aber dann kam Rosi und ich konnte meine Hilfe nicht verweigern.

Rosi wurde mit 68 g gefunden, ein absoluter Säugling also. Zunächst hieß es, sie habe nur Zecken und Flöhe, aber bei solchen Minis ist Zeit kostbar — wäre nicht etwas Dramatisches passiert lägen sie an der Zitze des Muttertieres im Nest und wären nicht draußen, noch dazu allein, unterwegs. Weil die Finderin sie aber nicht bringen konnte, übernahm den Fahrdienst eine nette Frau, die einfach nur helfen wollte: Janine.

Als Janine mit Rosi vorfuhr verabschiedete ich mich von der Familie für „eine gute halbe Stunde“ — es wurden fünf Stunden.

Fliegeneier im Igelfell von Rosi
So wie hier im Hintergrund auf Stirn und linker Gesichtshälfte saßen die Fliegeneier nahtlos, dicht gepackt und eben flächendeckend auf dem gesamten Kopf — inklusive Ohren und Augen. Diese Aufnahme entstand, als der größte Teil des Gesichts bereits gesäubert und Ohr und Auge auf dieser Seite freigelegt waren.

Denn Rosi war nicht nur klapperdürr und ausgezehrt, vor allem war sie gar nicht wirklich sichtbar. Denn auf ihr lag ein Teppich von Fliegeneiern — und darunter auch noch tausende frisch geschlüpfte und damit winzige, durchsichtiger Maden. Ihr gesamter Kopf hatte praktisch ein „Unterfell“ aus Fliegeneiern, diese waren so dicht und geradezu „eingewoben“ in das Fell, dass ich wirklich nicht wusste, ob ich sie jemals alle entfernen würde können. Die Ohren waren randvoll gefüllt mit Eiern und Maden, beide Augen waren von Eiern und Maden komplett verdeckt, es gab keine sichtbaren Augen unter all dem! Auch am Po, den Seiten, dem Bauch gab es weitere Fliegeneierbüschel und Maden krabbelten um/in der Scheide. Es war ein Anblick, wie ich ihn noch nie hatte — und wie ich ihn auch nie wieder brauche!

Wann immer ich die winzige Maus in die Hand nahm, war mein Handschuh sofort voller Maden. Ich wusste gar nicht, wo ich beginnen und wie ich arbeiten sollte, eine Weile über nahm ich die Maus nur in die Hand und musste sie direkt wieder weglegen und den Handschuh wechseln, um die Maden nicht vom Handschuh wieder zurück auf das Tier und damit überall ins Stachelkleid zurückzutragen.

Janine wechselte kurzerhand ihre Rolle von der freundlichen Fahrerin zur wichtigen Helferin: Zum einen übernahm sie die Kleine immer wieder, damit ich die Handschuhe wechseln konnte (ich verbrauchte eine halbe Packung), wärmte Rosi in den kleinen Erholungspausen, die ich ihr ließ, in ihren Händen und übernahm auch die zwischenzeitlichen Fütterungsversuche, während ich Infusionen aufzog, Medikamente mischte bzw. dosierte etc: Rosi erhielt ein Mittel, das eingewanderte Maden tötet sowie natürlich ein Antibiotikum.

Fliegeneier im Igelfell (Detail)
Detailansicht der Fliegeneier in Rosis Gesichtchen. Man sieht, dass die Fliegeneier senkrecht im Fell standen, statt wie sonst eher waagerecht in einzelnen Päckchen. So sind sie kaum vernünftig greifbar gewesen, weil man mit der Pinzette gar nicht wirklich drunter greifen konnte. Die Aufnahme entstand, als der größte Teil des Gesichts bereits gesäubert und Ohr und Auge auf dieser Seite schon freigelegt waren.

Zum anderen — und mindestens eben so wichtig: Janine hielt mich am Reden und Erklären, so dass meine Verzweiflung über die offensichtlich nicht schaffbare Arbeit und den schlimmen Zustand des Winzlings nicht überhand nehmen konnten.

Insgesamt blieb Janine geschlagene 3 h dabei und half und fuhr sogar noch zur Apotheke, um Nachschub am für die Fliegeneierentfernung so wichtigen Rivanol zu holen!

Danach machten Rosi und ich noch eine weitere viertel Stunde weiter mit Fliegeneier- und Madenzupfen und konnten uns dann endlich eine etwas längere Pause gönnen. Dann galt es, in der Nacht noch in weiteren „Sitzungen“ die einzelnen übrig gebliebenen Maden aus Rosis Ohren, Scheide und Augen zu sammeln.

Anfangs nahm Rosi nur sehr wenig der speziell angerührten Aufzuchtsmilch auf einmal an, sie kippte nach 1/4 Milliliter (!!!) immer schon völlig entkräftet in den Schlaf. Ein Viertel Milliliter sind etwa drei Tropfen!

Ihre Verdauung war wirklich komplett runter und ich war nicht sicher, ob sie wieder vernünftig hochfahren würde.

Entsprechend häufig, also anfangs halbstündlich, später stündlich, dann alle drei Stunden musste ich sie füttern und natürlich benötigte sie in den ersten Tagen zudem weiterhin Infusionen. Bei allem musste ich darauf achten, einen gangbaren Weg zu finden zwischen: „Oft genug stören, um etwas Nahrung in sie hineinzubekommen“ und „ausreichend Ruhe lassen zur Erholung“: Ihr Immunsystem lag im heftigen Kampf, um all die (nun absterbenden) eingewanderten Maden und die durch sie ausgelösten Sekundärinfektionen in den Griff zu bekommen.

Die Augen blieben zunächst entzündet und verklebt. Ich hielt sie mit isotonischer Kochsalzlösung feucht und gab antibiotische Augentropfen, um auch hier die durch die Maden ausgelösten Infektionen zu bekämpfen.

Gleichzeitig zu den Schäden durch die Fliegen versuchte ich herauszufinden, was der ursprüngliche Grund dafür war, dass Rosi überhaupt mutterseelenallein tagaktiv unterwegs war, während sie in dem Alter doch normalerweise ausschließlich an der Zitze der Mutter im Nest hätte liegen sollen.

Ein möglicher, mittlerweile hier leider verbreiteter Grund, den wir Päppler immer im Hinterkopf haben bei einer solchen Geschichte, ist ein tödlicher Parasit, der entkräftete Muttertiere umbringt und auch auf Welpen übergeht. Wobei der Mechanismus dieser Übertragung allerdings völlig unklar ist, aber wir mikroskopierenden Päppler sehen ihn (bzw. seine Eier) tatsächlich mitunter bereits in Welpenkot: Es ist der Darmsaugwurm.

Rosi nahm zunächst ein Gramm ab. Normalerweise sind Gewichtsstagnation und noch mehr ein Rückgang bei Igelbabys ein Grund zur Panik. Bei Rosi fand ich das jedoch angesichts der Umstände eigentlich noch relativ ok, ja fast ein Wunder, dass sie nur 1 g verlor über die ersten zwei Tage. Denn allein an Fliegenmaden und Eiern hatte ich bestimmt 1 g abgesammelt. Korrekterweise muss man aber die Infusionen eigentlich runterrechnen vom Gewicht, von daher war Rosis Substanzverlust tatsächlich etwas mehr als 1 g. Immerhin: Kot und Urin abzusetzen funktionierte und ich hatte somit auch Kot, um ihn zu mikroskopieren.

Dass sie aber auch am zweiten Tag kaum fraß, war nicht ok, sondern nunmehr wirklich ein möglicher Hinweis auf den Saugwurm, da ich die anderen typischen Ursachen für schlechten Appetit trotz Hungers durch Kotuntersuchung ausschließen konnte: Typische andere Auslöser hierfür wären auch Haarwürmer oder Kokzidien, beides im Kot recht zuverlässig nachweisbar. Zudem wären Haarwürmer noch gar nicht entwickelt bei einem solch kleinen Säugling.

ACHTUNG: Entwurmungen bei kranken Igeln finden NIE NIE NIE am schwachen Tier statt. Immer wird das Tier erst stabilisiert und danach, nach genauer Bestimmung, welche Parasiten vorliegen, entwurmt. Sofortige Entwurmungen sind — neben Spot-on-Gaben — die häufigste Todesursache von Igelnotfällen nach Tierarztbesuchen, weil Tierärzte leider häufig sofort zur Entwurmung greifen. Bei Rosi lag aber ein „Spezialfall“ vor, nämlich der begründete Verdacht auf einen Befall mit Darmsaugwurm. Gegen diesen „Wurm“ muss abweichend von der Grundregel sofort vorgegangen werden, glücklicherweise ist das Mittel gegen diesen Parasiten — anders als die Entwurmungsmittel gegen die meisten anderen Endoparasiten — aber auch recht verträglich.

Mit mulmigem Gefühl bekam Rosi von mir daher nun auch noch ein Medikament gegen Saugwürmer, denn sollte hier tatsächlich ein Saugwurm losgelegt haben, tickte praktisch die Uhr. Der Saugwurm tötet — einmal aktiv geworden — rasend schnell. Das Mittel gegen diesen Parasiten wird glücklicherweise auch von schwachen Tieren und Welpen i.d.R. gut vertragen.

Weil Rosi aber ja nun wirklich ganz besonders schwach war, hätte ich es ihr dennoch lieber nicht geben müssen. Doch das Risiko war mir zu groß: Nach allem, was wir geschafft hatten, wollte ich sie nun auf keinen Fall an den Saugwurm verlieren!

Ab dem dritten Tag begann Rosi, vernünftige Mengen zu trinken und dann auch endlich zuzunehmen! Und wie sie trank: 3 ml in einer Sitzung, dabei ganz sauber, kaum ging mal ein Tropfen aus der Fütterungsspritze daneben oder sie ließ etwas aus dem Mäulchen laufen. So gab es bei ihr auch fast kein „Käseecken“ im Fell neben den Mundwinkeln: Sauber!

Und nun gerade ertappe ich sie am Schälchen, wie sie selbständig ihre Aufzuchtsmilch schlabbert! Das ist ein solch großartiger Anblick!

(Und zudem bedeutet es für mich, dass ich ab sofort wieder nachts durchschlafen kann und auch Kundentermine und Ausflüge keine Probleme mehr sind – Juhuu!)

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden